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Interview mit Prof. László Kemény, Wissenschaftler und Politologe
(21. Januar 2019.)
WE: Es gab gerade einige Großdemonstrationen und Unruhen in Ungarn. Was war der Grund dafür und wo führt das hin?
László Kemény:Ungarn - ein Land mit Potential und Problemen
Das sind sehr wichtige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Es geht zunächst darum, dass es in Ungarn sehr lange still war. Das Volk erduldete alles, aber der Druck im Kessel fing an zu steigen. Jetzt kocht es. Es geht vor allen Dingen um soziale Fragen und auch darum, dass die jetzige Regierung keine Rücksicht auf die Meinung des Volkes nimmt. Neu an der heutigen Situation ist, auch im Vergleich mit anderen europäischen Problemen gleicher Art, dass nicht die verschiedenen politischen Parteien das Volk auf die Straßen gebracht haben, sondern umgekehrt. Das Volk ging auf die Straße und zwang damit die Oppositionsparteien sich ihnen anzuschließen oder sie wenigstens nicht zu behindern. Die momentane politische Situation zeigt, dass die Parteien den Wink verstanden haben. Die Oppositionsparteien, sowohl die sehr linken als auch die sehr rechten und allen voran die Mitte, haben sich zusammengeschlossen. Das ist ideologisch gesehen eine sehr illustre Gruppe, aber eines eint sie - wer jetzt nicht mit dem Volk geht, der bekommt auch keine Unterstützung bei den Wahlen. Und bei uns stehen in diesem Jahr gleich zwei an: die Europa- und die Kommunalwahlen.
WE: Wieso glauben Sie, dass das Volk Recht hat? Nicht immer hat die Straße Recht und manche Demonstrationen sind einfach emotional geladen.
László Kemény:
Da bin ich mit einverstanden. Hier gibt es mehrere große Probleme. Zu allererst, als Ungarn 2004 der EU beitrat, gehörte es zu den führenden Kräften unter den anderen europäischen Ländern, die zur gleichen Zeit beigetreten sind. In dieser Zeit bekam Ungarn etwa um die 14.000 Milliarden Finanzhilfen von der Europäischen Union, um die eigene Entwicklung anzukurbeln und um den Lebensstandard der Menschen auf ein wenigstens mittleres EU-Maß anzuheben. Statt dessen ist das Geld verpufft und nun befinden wir uns unter den gleichen Ländern am hinteren Ende der Statistik. Wieso? Weil die, die 2010 an die Macht kamen alles gestohlen haben. Schlicht gestohlen. Sie haben es für sich selbst ausgegeben. Es gibt jetzt einen enormen Unterschied zwischen dem Lebensstandard der oberen und der unteren Zehntausend. Man kann es überhaupt nicht vergleichen. Das ist der wichtigste Grund. Und dann kommt noch dazu, dass im Laufe der letzten zehn Jahre alle Bevölkerungsschichten irgendwelche a priori bekommen haben. Schüler, die mit einem Bildungssystem konfrontiert sind, das mit der modernen Welt völlig inkompatibel ist. Studenten, die ihr Studium aufgeben müssen, weil Institute zugunsten von teueren Universitäten geschlossen werden, aber niemand das Geld hat sie zu bezahlen - also kommt nur die obere Bevölkerungsschicht in den Genuss der Hochschulbildung. Pädagogen, Professoren, die praktisch ohne Bezahlung unterrichten. Nicht zu sprechen, von den Problemen von Frauen, Rentnern und vielen anderen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren die Arbeiter und Menschen, die im Staatswesen arbeiten. Es gibt jetzt ein Gesetz, das im Dezember innerhalb von zwei Tagen durch das Parlament gepeitscht wurde, ohne dass es zu einer Debatte darüber mit den Gewerkschaften oder anderen kam. Es geht dabei darum, dass Menschen zu über 400 Überstunden im Monat gezwungen werden können, aber das Gehalt dafür bekommen sie erst drei Jahre später. Das Volk nannte es das „Sklaverei-Gesetz“. Sie sagten bei diesen Demonstrationen: „Wir wollen keine Sklaven sein“.
WE: Eine Frage, die auch durchaus für Deutschland gilt: Vielleicht ist das gar kein ungarisches Problem, sondern eines, dass die ganze Europäische Union betrifft?
László Kemény:
Das wird in einem gewissen Grad bestimmt so sein. Aber in Deutschland betragen die üblichen Überstunden etwa 200 Stunden im Monat, in Ungarn wollen sie aber 400(!) einführen. Warum? Weil die ganzen Betriebe - BMW, Mercedes, all die deutschen Betriebe, die sich in Ungarn niedergelassen haben - bei sich zuhause die Gewerkschaften und Regierungen nicht dazu zwingen konnten die Überstunden dermaßen hoch zu schrauben und für sich selbst so viele Privilegien heraus zu schlagen. In Ungern hat es aber funktioniert.
WE: Herr Kemény, wir danken Ihnen für diesen Kommentar.
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